Der Vorsitzende des CEN/TC 10 erklärt u. a., welche Folgen die Megatrends der kommenden Jahre für die Aufzug- und Fahrtreppenbranche haben werden.
Wie sehen Sie mit Ihrer internationalen Erfahrung die Entwicklung und die Megatrends der kommenden Jahre in der Aufzug- und Fahrtreppenbranche?
Gharibaan: Es gibt mehrere Megatrends, die unsere Branche auf unterschiedliche Weise beeinflussen. Die Urbanisierung ist dabei einer der wichtigsten Trends. Derzeit leben 55 Prozent der Weltbevölkerung in Städten – bis 2050 wird dieser Anteil auf 68 Prozent steigen. In Verbindung mit dem Bevölkerungswachstum wird dies dazu führen, dass zu der derzeitigen Bevölkerung in den Städten noch weitere 2,5 Milliarden Menschen hinzukommen. Sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus Gründen der Nachhaltigkeit werden die meisten Menschen in mehrstöckigen Gebäuden leben. Der Ausbau von Dienstleistungen wie Einkaufszentren und Verkehrsknotenpunkten zur Unterstützung der Menschen vor Ort wird das Wachstum der Aufzugbranche weltweit ankurbeln. Natürlich ist die Urbanisierungsrate in den einzelnen Regionen der Welt unterschiedlich, sodass sich die Auswirkungen auf den verschiedenen Märkten unterschiedlich bemerkbar machen werden.
Ein weiterer wichtiger Trend ist die Nachhaltigkeit. Die Aufzugbranche konzentriert sich nun schon seit einiger Zeit auf die Energieeffizienz. So haben wir bei modernen Aufzügen eine erhebliche Verbesserung der Energieeffizienz im Vergleich zu den Werten desselben Aufzugtyps von vor nur einem Jahrzehnt festgestellt. Aber auch andere Umweltaspekte wie z. B. Materialverbrauch oder Recycling können ebenso wichtig werden. Darüber hinaus müssen auch andere Nachhaltigkeitsaspekte im Zusammenhang mit sozialer Verantwortung berücksichtigt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Barrierefreiheit, die die Lebensqualität vieler Bürger erheblich verbessern kann. Durch sie ist es einfacher, ältere Menschen in ihrem eigenen Zuhause zu pflegen, statt sie in Betreuungseinrichtungen unterzubringen.
Die Digitalisierung ist ein recht neuer Trend in der Aufzugbranche. So ist beispielsweise die Konnektivität von Aufzügen – die vor einiger Zeit noch eine Luxusoption war – heute alltäglich und sogar allmählich zu einer Notwendigkeit geworden. Die Digitalisierung kann für alle Beteiligten viele Vorteile in Form von verbesserten Dienstleistungen usw. bringen – doch sie birgt auch Herausforderungen wie z. B. das Thema Cybersicherheit. Natürlich hat die Sicherheit für die Aufzugbranche und alle Beteiligten absolute Priorität.
Wo sehen Sie angesichts dieser Entwicklungen Ihre Aufgabe als Vorsitzender des CEN/TC 10 – heute und in Zukunft?
Gharibaan: Zunächst einmal müssen wir sicherstellen, dass unsere Normungsarbeit auf die Bedürfnisse der europäischen Länder abgestimmt ist und diese widerspiegelt. Europäische Normen werden von den Mitgliedsländern des CEN als nationale Normen übernommen. Daher ist es äußerst wichtig, dass die nationalen Bedürfnisse und Anforderungen bei der Entwicklung der Normen dargestellt und angemessen berücksichtigt werden. Natürlich gibt es spezielle Abläufe des CEN, um dies sicherzustellen. Doch unser Technischer Ausschuss spielt auch eine wichtige Rolle bei der Einhaltung und Durchsetzung der entsprechenden Verfahren.
Das aktuelle Arbeitsprogramm des CEN/TC 10. Foto: © CEN/TC 10Die europäische Normung für Aufzüge und Fahrtreppen hat zur Verbesserung der Sicherheit und Zugänglichkeit für Fahrgäste und Techniker beigetragen. Normung wirkt sich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der europäischen Industrie aus, was schließlich allen Beteiligten zugutekommt. Wir müssen die Kontinuität der Normungsarbeit gewährleisten und uns an Veränderungen im Hinblick auf die Technologien, die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Bedürfnisse der Beteiligten anpassen. Im Technischen Ausschuss CEN/TC 10 werden die Mitglieder regelmäßig durch Abstimmungen oder Sitzungen zu Rate gezogen. So wird sichergestellt, dass die Arbeit des Ausschusses auf die Bedürfnisse der Mitglieder abgestimmt ist.
Viele unserer Normen sind harmonisierte europäische Normen zur Unterstützung der EU-Gesetzgebung. Durch eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission und dem CEN müssen wir dafür sorgen, dass unsere Normen vollständig mit den von der EU-Kommission festgelegten Bedingungen übereinstimmen und der Harmonisierungsstatus dieser Normen beibehalten wird.
Die Normungsarbeit wird durch die freiwillige Beteiligung von Experten aus interessierten Kreisen und Interessengruppen durchgeführt. Wir müssen die Beteiligung dieser Experten, insbesondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), in den nationalen und/oder internationalen Ausschüssen und Arbeitsgruppen fördern und erleichtern. Das größte Risiko für die Zukunft der Normung könnte der Mangel an geeigneten Experten sein. Der CEN/TC 10 ist offen für Experten aller Interessengruppen und begrüßt deren Beteiligung sehr. Außerdem passen wir unser Arbeitsprogramm an und erweitern unsere internationale Zusammenarbeit, z. B. mit der ISO, um sicherzustellen, dass die verfügbaren Ressourcen effizient und effektiv eingesetzt werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Berücksichtigung der internationalen Dimension der europäischen Normen. Europäische Normen für Aufzüge und Fahrtreppen werden auch in vielen Ländern außerhalb Europas verwendet. So bilden beispielsweise die EN 81-20 für Aufzüge und die EN 115-1 für Fahrtreppen in vielen Ländern der Welt die Grundlage für nationale Normen.
Die Urbanisierung bzw. die unterschiedlichen regionalen Urbanisierungsraten haben die Struktur der Aufzugbranche tiefgreifend beeinflusst. Zum Beispiel wurde durch die extrem hohe Urbanisierungsrate in China und im asiatisch-pazifischen Raum die lokale und regionale Nachfrage nach Aufzügen und Fahrtreppen erheblich gesteigert. Natürlich hat die Industrie Produktionsstätten und Vertriebszentren eingerichtet, um diese Märkte zu bedienen. Gut entwickelte und eingehaltene europäische Normen tragen dazu bei, ein einheitliches Sicherheitsniveau für Aufzüge und Fahrtreppen festzulegen – unabhängig davon, wo diese Anlagen installiert werden. Die Anwendung dieser Normen trägt außerdem wesentlich zur Harmonisierung der technischen Anforderungen für Aufzüge und Fahrtreppen in den verschiedenen Ländern bei, da durch den Normungsprozess in jedem Land die gleichen Anforderungen gelten.
Foto: © Ulrike LotzeDie technische Harmonisierung hat für alle Beteiligten viele Vorteile. So bietet sie beispielsweise eine Kostensenkung in der gesamten Lieferkette aufgrund von Skaleneffekten, Flexibilität bei der Beschaffung – da die aus verschiedenen Ländern bezogenen Komponenten dieselben Anforderungen erfüllen – und eine Verkürzung der Zertifizierungszeit (und damit der Zeit vom Entwurf bis zur Markteinführung).
Im Hinblick auf den Normungsprozess wird es für alle Normungsausschüsse und -arbeitsgruppen von sehr großer Bedeutung sein, die Bedürfnisse, Beiträge und Ansichten aller Anwender der Normen angemessen zu berücksichtigen. Um dies zu erreichen, haben das CEN und der CEN/TC 10 mehrere Vereinbarungen und Foren zur Zusammenarbeit eingerichtet, um außereuropäische Anwender der Normen einzubeziehen. Angesichts all der Veränderungen, die um uns herum stattfinden, ist auch die internationale Zusammenarbeit ein entscheidender Faktor, um die Relevanz der europäischen Normen auch auf internationaler Ebene zu erhalten.
Welche neuen Normen sind demnächst zu erwarten? Werden sie wichtige technische Veränderungen für die Branche mit sich bringen?
Gharibaan: Eine vollständige Übersicht über das Arbeitsprogramm des CEN/TC 10 ist in Abbildung 1 dargestellt. Es gibt mehrere neue Normen. Die EN 81-42 ist eine Norm, die Hebezeuge mit vollständig geschlossenem Lastträger umfasst. Vielleicht sind Sie mit der Norm EN 81-41 vertraut, die Hebebühnen betrifft. Der Unterschied zwischen den beiden Normen besteht darin, dass der Lastträger (Fahrkorb) in EN 81-42 vollständig geschlossen ist – mit Fahrkorbtüren usw. –, wie es bei Aufzügen nach EN 81-20 der Fall ist. Die Geschwindigkeit ist jedoch auf 0,15 m/s begrenzt, was bedeutet, dass diese Norm im Rahmen der Maschinenrichtlinie harmonisiert werden wird. Wir gehen davon aus, dass die EN 81-42 bis Ende 2023 veröffentlicht wird.
Bei der EN 81-76 handelt es sich um eine neue Norm für die Evakuierung von Gebäuden mit Aufzügen. Diese Norm war ursprünglich eine Technische Spezifikation (CEN/TS 81-76), wird aber jetzt vollständig überarbeitet. Wir rechnen mit einer Veröffentlichung Anfang 2024. Eine weitere Norm ist die EN 115-5 für den Austausch von Fahrtreppen in bestehenden Gebäuden. Diese Norm sollte ebenfalls im Jahr 2024 erhältlich sein.
Die ISO 8102-20 zur Cybersicherheit von Aufzügen und Fahrtreppen ist eine weitere sehr wichtige Norm, die von der ISO entwickelt wird. Wir gehen davon aus, dass sie im Laufe dieses Jahres veröffentlicht wird. Da es sich um neue Normen handelt, werden sie wahrscheinlich einen großen Einfluss auf die Konstruktion und den Einbau von Aufzügen und Fahrtreppen haben.
Warum brauchen wir eigentlich so viele Aufzugnormen? Für mittelständische Unternehmen stellt dies durchaus eine große Herausforderung dar ...
Gharibaan: Es gibt viele gute Gründe für Normen. Beispielsweise, um Spezifikationen festzulegen, die unabhängig von der Herstellung ein einheitliches Sicherheits- oder Zugänglichkeitsniveau gewährleisten.
Das aktuelle Arbeitsprogramm des ISO/TC 178. Foto: © ISO/TC 178Ein weiterer wichtiger Grund ist die Anwendung von Normen – wie z. B. den harmonisierten europäischen Normen – zur Einhaltung von Vorschriften. Durch die Anwendung harmonisierter Normen können die Kosten für die Zertifizierung erheblich gesenkt werden, insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU).
Eine andere Frage könnte sein, ob nicht besser alles in einer Norm zusammengefasst werden sollte, anstatt getrennte Normen für verschiedene Themen zu haben. Die Normenreihe des CEN/TC 10 ist modular aufgebaut. Das bedeutet, dass es eine Hauptsicherheitsnorm gibt – z. B. die EN 81-20 – und andere spezifische Themen in separaten Normen behandelt werden, wie z. B. die EN 81-72 für Feuerwehraufzüge. Diese Struktur hat viele Vorteile – es sind beispielsweise nicht alle Aufzüge auch Feuerwehraufzüge. So wird in einer separaten Norm klar definiert, was z. B. für Feuerwehraufzüge erforderlich ist, ohne die Hauptsicherheitsnorm – die für alle Aufzüge gilt – zu verkomplizieren.
Änderungen der Technologie, Innovationen und Nutzererfahrungen erfordern regelmäßige Aktualisierungen/Überarbeitungen unserer Normen. Wenn es für jedes Thema eine eigene Norm gibt, ist es einfacher, jeweils nur die betreffende Norm hinsichtlich der entsprechenden Änderungen zu überarbeiten. Wenn zum Beispiel die Technologie für den Fern-Notruf geändert wird, aktualisieren wir nur die EN 81-28 und müssen die wichtigste Sicherheitsnorm (EN 81-20) für Aufzüge gar nicht überarbeiten. Dies vereinfacht und verkürzt nicht nur die Zeit für die Überarbeitung der Norm, sondern hilft auch dem Anwender der Norm, da er nur die Änderungen an dem entsprechenden Aspekt des Aufzugs erkennen und sich nicht um die Hauptsicherheitsnorm kümmern muss.
Stellen Sie sich vor, alles stünde in einer einzigen Norm – z. B. in der EN 81-20 – und jedes Mal, wenn sich etwas ändert, müssten wir die Hauptnorm überarbeiten. Dies wäre ein sehr zeitaufwändiges Verfahren. Und auch für die Anwender – insbesondere für KMU – könnte es sehr schwierig sein, jedes Mal die überarbeitete Hauptnorm erwerben zu müssen (die aufgrund ihres Umfangs relativ teuer wäre) und diese auch anzuwenden – einschließlich einer möglichen Neuzertifizierung usw.
Wie bereits erwähnt, werden die europäischen Normen in vielen Ländern auf der ganzen Welt verwendet. Zwischen diesen Ländern besteht ein allgemeiner Konsens hinsichtlich der Anforderungen an die Sicherheit von Aufzügen und Fahrtreppen. Fragen des Brandschutzes oder der Barrierefreiheit sind jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich. Wenn man alles in eine einzige Norm packt, wäre es unmöglich, einen Konsens über die Verwendung dieser Norm in all diesen Ländern zu erzielen. Dies würde die technische Harmonisierung, die wir mit viel Mühe aller Beteiligten erreicht haben, gefährden.
Weltweit gibt es einen Bestand von rund 20 Millionen Aufzügen und Fahrtreppen. Jedes Jahr kommen etwa eine Million neue Anlagen hinzu. Viele neue EN/ISO-Normen werden für Neuinstallationen entwickelt. Warum beschäftigt man sich nicht auch mit Normen und Vorschriften für die zahlreichen bestehenden Anlagen? Hier geht es schließlich um Aspekte wie mehr Sicherheit, Energieeffizienz, Barrierefreiheit, Umweltaspekte, Cybersicherheit, Digitalisierung, Nachhaltigkeit usw.
Gharibaan: Anlagen im Bestand stehen im Mittelpunkt der Arbeit des CEN/TC 10. Wir haben mehrere Normen erlassen, um die Sicherheit und Zugänglichkeit dieser Anlagen zu verbessern. Als Beispiele sind hier die EN 81-80, EN 81-82 und EN 81-83 für Aufzüge sowie die EN 115-2 für Fahrtreppen zu nennen. Für die weitere Normung stehen wir jedoch mehreren Herausforderungen gegenüber. Die Anforderungen an bestehende Anlagen werden beispielsweise durch nationale Vorschriften geregelt, die sich von Land zu Land unterscheiden – selbst innerhalb der EU. Daher ist es sehr schwierig, hinsichtlich der Anforderungen der Normen einen Konsens zu erzielen, der auch den unterschiedlichen nationalen Vorschriften gerecht wird. Darüber hinaus erfolgt die Anwendung der Normen für bestehende Anlagen entweder auf freiwilliger Basis oder aber es ist eine nationale Regelung zur Durchsetzung der Normen erforderlich. Für andere Normen außer der EN 81-80, auf die in den nationalen Vorschriften vieler EU-Länder verwiesen wird, gibt es daher keine solche Durchsetzung. Nichtsdestotrotz wird der CEN/TC 10 die aktuellen Normen weiter verbessern und neue Normen initiieren, wann immer dies möglich ist.
Welche Rolle spielen die KMU und die Komponentenhersteller bei den Normen und Vorschriften für die Aufzugbranche?
Gharibaan: KMU und die Komponentenhersteller spielen bei der Normung eine ganz entscheidende Rolle. Meiner Meinung nach sind sie sowohl Hauptnutzer als auch Nutznießer der Normen. Dies gilt insbesondere für die harmonisierten europäischen Normen, durch deren Anwendung die Kosten für Konformitätsbewertung und Zertifizierung erheblich reduziert werden.
Meines Wissens verfügen auch die Experten aus den KMU über eine hohe Kompetenz sowie einen großen Erfahrungsschatz, da sie mit vielen Aspekten der Geschäftstätigkeit ihres Unternehmens konfrontiert sind.
Ich wünsche mir eine umfassendere Beteiligung und Mitarbeit der Experten aus den KMU. Natürlich verstehe ich auch, dass es seitens der KMU Einschränkungen finanzieller Art und bei den Ressourcen gibt. Ich kann die Experten der KMU jedoch nur ermutigen, sich an der Normungsarbeit zu beteiligen. Wenn ihre begrenzten Ressourcen eine Teilnahme auf internationaler Ebene nicht zulassen, sollten sie zumindest versuchen, in den Ausschüssen und Arbeitsgruppen ihrer nationalen Normungsorganisationen mitzuarbeiten.
Diese spielen eine entscheidende Rolle in den internationalen Normungsorganisationen wie CEN und ISO. Sie entscheiden bzw. stimmen darüber ab, welche Normen entwickelt werden sollen. Darüber hinaus geben sie auch Kommentare zu den Norm-Entwürfen ab und genehmigen die Norm schließlich. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mitarbeit in den nationalen Normungsorganisationen einen unmittelbaren Nutzen bringt, da die Teilnehmer die Informationen lange vor der Veröffentlichung der Normen erhalten und somit ihre Produkte und Dienstleistungen rechtzeitig, ordnungsgemäß und kosteneffizient anpassen können.
Die neue Verordnung über Maschinenprodukte wird bald die Maschinenrichtlinie ablösen. Welches sind die wichtigsten Themen, mit denen die Branche hier konfrontiert ist, und wann ist es so weit?
Gharibaan: Die erste wichtige Änderung ist, dass die Maschinenrichtlinie zur Maschinenverordnung wird. Die Verordnungen der EU müssen nicht in nationales Recht umgesetzt werden. Daher sind die Anforderungen transparenter und werden in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich und gleichzeitig angewendet.
Foto: © Ulrike LotzeUnter dem Gesichtspunkt der Grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen (EHSRs) wird sich die neue Maschinenverordnung auch mit den Risiken befassen, die durch den Einsatz von Software und künstlicher Intelligenz bei Sicherheitsfunktionen entstehen. Außerdem könnten Themen wie z. B. Cybersicherheit zu einem wichtigen Aspekt werden, den es zu berücksichtigen gilt. Die Verordnung sieht vor, dass die Produktdokumentation in digitaler Form bereitgestellt werden kann. Aktuell befindet sich die Verordnung noch im Genehmigungsverfahren. Wir müssen noch den endgültigen Text und die Anforderungen abwarten, bevor eine genauere Folgenabschätzung vorgenommen werden kann.
Die neue Verordnung wird Auswirkungen auf Normung und Zertifikate haben. Aber auch hier gilt: Um die Auswirkungen beurteilen zu können, müssen wir erst noch den endgültigen Text und den Inhalt der neuen Normungsanforderung abwarten, der von der Europäischen Kommission erteilt wird. Dies ist eine sehr bedeutende Verordnung, da sie Aufzüge, Fahrtreppen als auch Hebevorrichtungen betrifft – also im Grunde sämtliche Produkte der Aufzugbranche. Es ist wichtig, den Inhalt genau zu analysieren, sobald der endgültige Text vorliegt.
Sie stehen in engem Austausch mit der EU und den HAS-Consultants – sind die nächsten Harmonisierungsschritte bereits absehbar?
Gharibaan: Aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2016, dass harmonisierte europäische Normen Teil des EU-Rechts sind, hat die Europäische Kommission spezifische Kriterien für die Anerkennung und die Nennung der Bezugsnummern der harmonisierten Normen im Amtsblatt der EU (OJEU) festgelegt. Durch die Veröffentlichung bekommt die harmonisierte Norm den Status einer „Konformitätsvermutung“ hinsichtlich der Anforderungen der einschlägigen EU-Richtlinien oder -Verordnungen. Ohne diese Veröffentlichung hat die harmonisierte Norm den gleichen Status wie jede andere nicht harmonisierte europäische Norm.
Wir haben sehr eng mit der Europäischen Kommission, den Harmonised Standards Consultants (HAS-Consultants) und den CEN-Gremien zusammengearbeitet, um diese Kriterien in Bezug auf harmonisierte Normen für Aufzüge zu klären und zu vereinbaren. Dann haben wir diese Vereinbarungen auf der Grundlage eines mit der Europäischen Kommission vereinbarten Fahrplans umgesetzt.
Diese Zusammenarbeit war sehr erfolgreich, und als Ergebnis wurden die Bezugsnummern der EN 81-20/50:2020 sowie der EN 81-72:2020 und der EN 81-73:2020 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Wir gehen davon aus, dass die Bezugsnummern der EN 81-21, 28, 58, 70, 71 und 77, die im Jahr 2022 veröffentlicht werden, im Laufe dieses Jahres im Amtsblatt der EU genannt werden. Daher bin ich zuversichtlich, dass unsere Normen veröffentlicht werden und ihren Status als harmonisierte europäische Normen behalten werden.
Was raten Sie den Herstellern? Sollen sie neue Produkte nach den harmonisierten (technisch oft nicht mehr aktuellen) Normen auf den Markt bringen – mit dem Risiko, das ganze Verfahren möglicherweise wiederholen zu müssen?
Gharibaan: Die Antwort auf diese Frage hängt von vielen Faktoren ab, die für jeden einzelnen Hersteller ganz unterschiedlich sein können. Im Allgemeinen sollten die Hersteller ihre Produkte, die von ihnen angewandten Konformitätsbewertungsmodule, das Ablaufdatum der Zertifikate und andere relevante Faktoren bewerten und dann entscheiden, wie sie die neuen Normen auf ihre Produkte und Dokumente beziehen wollen. Ich kann aber sagen, dass wir im CEN/TC 10 bei der Überarbeitung unserer Norm, um sie an die neuen Zitierkriterien anzupassen, sehr darauf geachtet haben, keine technischen Änderungen vorzunehmen. Daher ist die neu veröffentlichte Version der Normen technisch identisch mit der älteren Version.
Wie sieht der derzeitige Zeitplan für den Übergang von der EN 81-20/50 zur EN ISO 8100-1/2 aus?
Gharibaan: Die EN ISO 8100-1/2 ist ein gemeinsames Projekt vom CEN/TC 10 und dem ISO/TC 178. Ziel ist es, die EN 81-20/50:2020 und die ISO 8100-1/2:2019 (derzeit identisch mit der EN 81-20/50:2014) zu überarbeiten und das Ergebnis in einer internationalen Normenreihe (EN) ISO 8100-1/2 zusammenzufassen.
Die (EN) ISO 8100-1/2 wird voraussichtlich im ersten Quartal 2025 veröffentlicht werden. Sie wird weltweit unter der Bezeichnung ISO 8100-1/2:2025 und in Europa unter der Bezeichnung EN ISO 8100-1/2:2025 bekannt sein. Die EN ISO 8100-1/2:2025 wird eine harmonisierte europäische Norm sein. Infolgedessen wird die EN 81-20/50:2020 spätestens im ersten Quartal 2028 – also maximal drei Jahre nach Veröffentlichung der EN ISO 8100-1/2:2025 – zurückgezogen werden. Der genaue Zeitpunkt dafür wird von den Mitgliedern des CEN/TC 10 in einer Abstimmung festgelegt.
Welche Bedeutung haben die nicht harmonisierten ISO-Normen für den Markt und die Hersteller?
Gharibaan: Der ISO/TC 178 verfügt über einen umfassenden Normenkatalog (siehe Abbildung 2). Mehrere dieser Normen sind auch zu europäischen Normen geworden. Dies trifft beispielsweise auf die EN ISO 14798 zur Risikobeurteilung oder die EN ISO 25745/1/2/3 zur Energieeffizienz, Energieberechnung und Klassifizierung von Aufzügen zu. Diese EN-ISO-Normen sind gute Beispiele für internationale Zusammenarbeit und die effiziente Nutzung unserer Expertenressourcen, d. h. ISO- und CEN-Experten arbeiteten gleichzeitig an ein und derselben Norm.
Es gibt auch andere ISO-Normen, die von großer Bedeutung oder Interesse sein könnten, die aber (noch) nicht als europäische Normen verabschiedet wurden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die ISO 8102-20 für Cybersicherheit – die in Kürze veröffentlicht wird – oder auch die ISO 8100-32 für die Planung und Auswahl von Aufzügen in Gebäuden.
Ich möchte jedem dringend empfehlen, sich mit den ISO-Normen vertraut zu machen. Diese Normen können für Ihre Produkte und Dienstleistungen sehr hilfreich sein.
Das Interview führte Ulrike Lotze.
Weitere Informationen: Esfandiar Gharibaan ist Vorsitzender des CEN/TC 10, dem Technischen Ausschuss des Europäischen Komitees für Normung (CEN), das für die Entwicklung und Pflege europäischer Normen für Aufzüge, Fahrtreppen und Fahrsteige zuständig ist. Außerdem ist er Mitglied mehrerer CEN- und ISO-Normungsausschüsse und -arbeitsgruppen für Aufzüge und Fahrtreppen.
Er erwarb seinen Master of Science (MSc.) in CAD/CAM und Robotik an der Middlesex University in London, Vereinigtes Königreich, und war viele Jahre lang im Bereich Maschinenbau im Vereinigten Königreich sowie in Kanada tätig.
1988 kam er zur KONE Corporation und bekleidete verschiedene Führungspositionen in den Bereichen Technik, Forschung und Entwicklung (F&E) sowie Geschäftsprozessentwicklung in mehreren Ländern. Aktuell ist er bei der KONE Corporation als Vice President für weltweite Normen und Vorschriften zuständig.
Kommentar schreiben