René Hermann ist seit dem 1. Januar 2021 Vorsitzender der Arbeitsgruppe CEN TC10 WG1 – "Lifts and service lifts" und Nachfolger des verstorbenen Ian Jones. Was damit auf die Aufzugsbranche zukommt und wann mit dem Erscheinen der beiden Normen zu rechnen ist, erklärt Hermann im Gespräch mit dem LIFTjournal.
Warum haben Sie dieses Amt angenommen?
René Hermann: Ich bin schon länger in der WG 1 aktiv und habe meine Meinung oft kritisch eingebracht. Aber man kann nicht immer nur Kritik äußern, sondern muss auch dazu bereit sein, die Führung zu übernehmen und sich aktiv zu engagieren. Die Arbeit ist eine riesige Herausforderung, denn wir haben zwei große Aufgabenbereiche. Einerseits die Erarbeitung einer weltweiten ISO-Norm, die auch in Europa als EN ISO Norm angewendet wird. Gleichzeitig hat die EU-Kommission im Rahmen der Harmonisierung von Normen eine strikte Qualitätskontrolle eingeführt.
Für die EN 81-20 und die EN 81-50 haben wir von der EU insgesamt über 800 Kommentare für Korrekturen erhalten. Der Hauptkritikpunkt dabei war, dass wir die CEN Regeln für den Aufbau von Normen, die in der CEN Geschäftsordnung im Teil 3 festgelegt sind, nicht eingehalten haben. Nun wurden wir von der Vergangenheit eingeholt, da wir diese Regeln bei der Erarbeitung der bestehenden Normen nicht immer konsequent berücksichtigt haben.
Was sind Ihre Hauptaufgaben und -themen des CEN/TC10-WG1?
Hermann: Die aktuelle Hauptaufgabe ist die Arbeit an der EN ISO 8100-1/2. Die Arbeit an anderen Normen haben wir wegen der großen Arbeitslast zurückgestellt. Eine interne Umfrage bei der Arbeitsgruppe 1 zur ISO 8100-1/2 ergab sehr viele Kommentare, die in die Norm eingearbeitet werden müssen. Parallel dazu hat die EU-Kommission im Rahmen der Harmonisierung zur EN 81-20/50 über 800 Beanstandungen aufgelistet, die ebenfalls zu beheben sind. Diese vielen Kommentare müssen parallel bearbeitet werden und schlussendlich in die EN ISO 8100-1/2 integriert werden.
Um diese Herausforderung zu meistern, müssen wir uns vollumfänglich auf diese Arbeit fokussieren. Dazu muss man pragmatisch sein und Mut zur Lücke haben, ich denke, das ist eine meiner Stärken. Die Erfahrung, die ich in 37 Jahren in der Entwicklung bei Schindler sammeln konnte, hilft mir dabei sehr.
Wann erwarten Sie das Erscheinen der EN ISO 8100-1/2?
Hermann: Das wird sicher nicht vor Mitte 2024 der Fall sein. Das ist eine lange Zeitspanne, aber wir haben von zwei Seiten sehr viele Kommentare bekommen. Das Ziel ist, dass wir die ISO 8100-1/2 Anfang nächsten Jahres in den beiden Arbeitsgruppen CEN TC10 WG1 und ISO TC178 WG4 intern zu Abstimmung verteilen können. Aus dieser Abstimmung erwarte ich wiederum sehr viele Kommentare, welche dann bearbeitet werden müssen.
Foto: © Collage okapidesign / alexandersikov //123RF.comDurch die vielen Kommentare sowohl der EU-Kommission wie auch der Normengremien werden die beiden Normen redaktionell sehr stark geändert. Das ist schon eine große Herausforderung. Die Anforderungen der EU-Kommission an die CEN im Rahmen der Harmonisierung von Normen betrifft aber nicht nur die Aufzugsbranche, sondern schüttelt auch andere Industrien durch.
Welche Neuerungen erwarten Sie?
Hermann: Die wichtigsten Neuerungen betreffen die neuen Anforderungen wie alternative Tragmittel, vertikale Schiebetüren oder die Bremsen von Aufzugsmaschinen. Auch die Struktur der Norm wird sich gravierend ändern, so wird etwa das Kapitel "Annahmen" verschwinden und die Punkte müssen als Anforderungen im normativen Teil des Dokumentes oder als Abgrenzung im Anwendungsbereich definiert werden.
Zudem müssen alle Anforderungen in den Normen so formuliert werden, dass sie objektiv verifizierbar und messbar sind. Es dürfen keine Wörter vorkommen wie "groß genug", "so klein wie möglich", sondern man muss effektiv messbare Größen formulieren. Ich persönlich bin der Meinung, dass dadurch für den Anwender mehr Klarheit geschaffen wird.
Welchen Einfluss haben diese Änderung auf die Aufzugsbauer, Komponentenhersteller und Prüforganisationen?
Hermann: Sie haben sicher einen großen Einfluss auf alle Bereiche, sowohl auf Montagebetriebe, Hersteller von Sicherheitskomponenten, Normierungsgremien, aber auch auf die Organisationen, die die Konformitätsbewertungen machen. Es gibt Präzisierungen, neue Anforderungen und so weiter. Eine wichtige Forderung der EU-Kommission ist auch die Abgrenzung des Aufzuges vom Gebäude. Ein Aufzugsbauer liefert eine Maschine in ein Gebäude.
Wir werden daher alle Anforderungen, die das Gebäude betreffen, aus den Anforderungen des Aufzuges in einen separaten informativen Anhang verschieben. Das ist aus meiner Sicht eine Verbesserung und auch eine Vereinfachung für uns Aufzugsbauer, da die Schnittstellen zum Gebäude in einem eigenen informativen Anhang zusammengefasst sind.
Was wird für die Komponentenhersteller die größte Veränderung sein?
Hermann: Zum Beispiel denke ich da an die Anforderungen an Hydraulikschläuche oder Sicherheitsglas. Mittlerweile gibt es Standards und Normen für solche Komponenten. Es wird mit Sicherheit eine Reform der Aufzugsnormen sein, und es wird auch Stimmen geben, die sagen, dass es eine Revolution ist. Aber im Endeffekt glaube ich nicht, dass der Sprung effektiv so groß sein wird wie der von der EN 81-1 zur EN 81-20.
Für die Komponentenhersteller gibt es eigentlich keine großen Änderungen. Eine Ausnahme könnten die neuen Anforderungen and die Maschinenbremse sein. Durch die Konkretisierung der Anforderungen und durch die Referenzierung von Industriestandards für Komponenten oder Bauteile wird mehr Klarheit geschaffen.
Welchen Einfluss haben Komponentenhersteller in der Aufzugsbranche auf Normen?
Hermann: Im Moment keinen sehr großen, eigentlich würde ich mehr Input erwarten und eine aktivere Mitarbeit in der Normierung. Das finde ich sehr schade, ich erwarte eigentlich von Komponentenherstellern ein wenig mehr Engagement. Zur CEN WG1 gehören über 50 Leute, aber nur eine Minderheit bringt sich effektiv aktiv ein. Dies ist aber durchaus verständlich, da die Komplexität und die Vielzahl der Normen es für Komponentenhersteller und auch für KMU schwierig macht, den Überblick zu behalten. Dementsprechend ist der Aufwand zur Mitarbeit in den vielen Arbeitsgruppen erheblich.
Foto: © okapidesignIch plädiere daher dafür, dass die ganze Normenstruktur vereinfacht wird. Im Moment wirkt sich Änderung einer Norm auf viele andere Normen aus. Sobald eine Norm geändert wird, müssen alle anderen auch überarbeitet werden. Aus meiner persönlichen Sicht müsste man daher einen großen Schritt wagen und wieder zu einfacheren Strukturen zurückkehren. Die Erfüllung der Aufzugsrichtlinie sollte mit in einer einzigen Norm der EN ISO 8100-1 ermöglicht werden. Alle anderen Normen sind dann zusätzliche optionale Normen zum Beispiel für "Vandalensicherheit" oder "Erdbebensicherheit". Diese müssen nicht unbedingt harmonisiert werden. So soll die EN 81-28 in die EN ISO 8100-1 integriert werden.
Eine solche Vereinfachung würde insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen helfen, die Normen umzusetzen. Eine solche Vereinfachung wird und muss geschehen, die Frage ist einfach, wie schnell es kommt – es ist nun mal auch ein fast politischer Prozess.
Werden die Norm weltweit umgesetzt oder gibt es Ausnahmen?
Hermann: Diejenigen Länder, die bereits die EN 81-20 und die EN 81-50 eingeführt haben, werden auch die ISO 8100-1/2 anwenden. Das Risiko besteht jedoch, dass zusätzlich noch länderspezifische Anforderungen gestellt werden. Durch die regelmäßige Kommunikation mit ISO TC 178 Mitgliedern kennen wir aber bereits viele Anforderungen und können diese bereits jetzt diskutieren. Dadurch erwarte ich, dass die ISO Norm unverändert angewendet wird.
Hat die neue Norm auch Einfluss auf die großen Themen der Branche wie Digitalisierung, Cybersecurity, Barrierefreiheit und Nachhaltigkeit?
Hermann: Nein, dies ist auch nicht der Umfang dieser Sicherheitsnorm. Für diese Themen gibt es bereits eigene Normen oder sie sind in Vorbereitung. In Europa müssen wir jedoch genau beobachten, was mit der Maschinenrichtlinie passiert, da insbesondere die Themen Cybersecurity oder Digitalisierung da diskutiert werden. Die Aufzugsindustrie kann sich da nicht einfach abkoppeln, denn die Maschinenrichtlinie ist die Basis der Aufzugsrichtlinie. Neue Anforderungen der zukünftigen Maschinenverordnung werden mit Sicherheit auch die Aufzugsrichtlinie beeinflussen.
Es ist deshalb wichtig über den Tellerrand zu schauen: Was ist bezüglich dieser Themen der Industriestandard im Maschinenbau? In diesen Bereichen sollten wir uns vielmehr am Stand der Technik der Maschinenindustrie orientieren, statt eigene Aufzugsnormen zu schreiben.
Sie sind auch noch im Vorstand der ELA. Wie sehen Sie die heutige und zukünftige Rolle der ELA, besonders in Asien und Nordamerika?
Hermann: Die Kooperation mit China ist ein heikles, aber auch kein technisch einfaches Thema. Es ist wichtig, dass die ELA auch darauf achtet, dass Europa weiterhin stark bleibt und eine wirkliche Zusammenarbeit stattfindet und nicht nur ein Knowhow-Transfer. Der Vorteil in Europa ist, dass wir sehr viele Grundregeln haben, wie etwa bei der Arbeitssicherheit. In diesen Bereichen kann die ELA mit Sicherheit gut unterstützen.
Die Zusammenarbeit mit USA ist sicher auch nicht einfach, da Amerika eine eigene Normenstruktur hat, die sich erheblich von der europäischen unterscheidet. Eine Angleichung beurteile ich da als eher schwierig, insbesondere auch bei elektrischen Komponenten. Zudem gibt es in den USA bei der Zulassung und Abnahme von Aufzügen sehr viele zuständige Stellen mit unterschiedlichen Anforderungen. Da haben wir in Europa für die Industrie wunderbare Verhältnisse mit den gleichen Konformitätsbewertungsverfahren und den offenen Grenzen.
Wie sehen Sie die Rolle der ELA mit Blick auf die Komponentenhersteller und den Mittelstand?
Hermann: Da gibt es nach meinem Gefühl schon eine gewisse Spaltung. Aus meiner Sicht müssen sich die Komponentenhersteller mehr am Industriestandard orientieren, statt nur an den Normen EN 81-20 und der EN 81-50. Wir Aufzugsbauer sollten nicht spezielle Grundanforderungen an Komponenten verlangen, die nicht dem Industriestandard entsprechen.
Diese speziellen Anforderungen haben sicher auch historische Gründe und es handelt sich auch um eine gewisse Marktabschottung gegenüber der Maschinenindustrie. Die ELA muss aber weiterhin die Rolle als Repräsentant und Interessensvertreter des Mittelstandes und der Komponentenhersteller gewährleisten.
Das Interview führte Ulrike Lotze.
Wer ist René Hermann? René Hermann gehört seit vielen Jahren zu den Schlüsselpersonen der Arbeitsgruppe CEN TC10 WG1 – "Lifts and service lifts" und hat seit diesem Jahr auch deren Vorsitz übernommen. Er ist eidgenössischer Diplom Elektro-Ingenieur, Absolvent der ETH Zürich und seit über 36 Jahren in der Aufzugsbranche in der Forschung und Entwicklung der Firma Schindler Aufzüge AG tätig. René Hermann gehört zum Vorstand der European Lift Association (ELA) und ist Vorsitzender des Technischen Komitees des Schweizerischen Aufzugsverbandes VSA.
Was macht die CEN TC10 WG1? Die Arbeitsgruppe CEN TC10 WG1 – "Lifts and service lifts" ist verantwortlich für die wichtigsten Aufzugsnormen wie die EN 81-20, EN 81-50 oder die EN 81-28. Die Hauptaufgabe ist derzeit die Überarbeitung der beiden Normen EN ISO 8100-1:2019 und EN ISO 8100-2:2019. Diese sind identisch mit der EN 81-20:2014 und der EN 81-50:2014. Das Ziel der Revision ist die Veröffentlichung als Aufzugsnormen EN ISO 8100-1 und EN ISO 8100-2, die als ISO Norm weltweit angewendet werden kann.
"Dieses Projekt ist eine riesige Herausforderung, da sowohl ganz neue Anforderungen wie z. B. neue Tragmittel oder vertikale Schiebetüren berücksichtigt werden, jedoch auch die veränderten rechtlichen und qualitativen Anforderungen der EU-Kommission an harmonisierte Normen erfüllt werden müssen", erklärte Hermann: "Die Erfüllung der Anforderungen der EU und der Abgleich mit den globalen technischen Anforderungen der ISO-Mitglieder ist Neuland für die WG 1 und wird uns noch etliches Kopfzerbrechen bescheren."
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