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Megaprojekt EN ISO 8100-1/2: Was kommt auf die Aufzugsbranche zu?

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Es ist eines der größten und wichtigsten Normungsprojekte der Aufzugsbranche: die Entwicklung einer weltweit gültigen Norm, der EN ISO 8100-1/2.

Der Entwurf liegt vor: Die prEN ISO 8100-1/2 soll im Herbst 2024 mit geringfügigen, hauptsächlich redaktionellen Änderungen als endgültiger Entwurf veröffentlicht und im Frühjahr 2025 offiziell als EN ISO 8100-1/2 herausgegeben werden. Die Verantwortung für die Überarbeitung liegt bei der Working Group 1 des CEN TC 10, den Vorsitz hat René Hermann. Das LIFTjournal hat ihn zu dem Megaprojekt befragt.

Wie lange hat die Ausarbeitung dieser Normen gedauert und was waren die größten Herausforderungen dabei?
Hermann: Der Start zur EN ISO 8100-1/2 erfolgte bereits im Jahr 2014, als beschlossen wurde, einen EN ISO-Standard basierend auf der EN 81-20/50 zu entwickeln. Das Ziel war, eine globale Norm für Aufzüge zu publizieren, die überall als identische nationale Norm verwendet wird. 2016 veränderte dann das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Fall "James Elliott" die Welt der "Normenentwickler" komplett. Der EuGH stellte in diesem Urteil fest, dass Normen Teil des Unionsrechts sind und die Kommission, soweit sie Kontrolle über deren Ausarbeitung oder Veröffentlichung ausübt, auch für diese verantwortlich ist. Die EU-Kommission hat darauf eine strikte Qualitätskontrolle aller harmonisierten Normen durch "HAS Consultants" eingeführt.

Diese bewerten, ob die zu harmonisierenden Normen den Anforderungen entsprechen, die die EU-Kommission in ihren Normungsaufträgen festgelegt hat. Dies hat dazu geführt, dass 2019 die "Zitierung" diverser Aufzugsnormen abgelehnt wurde. Alleine zur EN 81-20/50 gab es eine Liste von 1.000 Mangelpunkten. Der Aufwand für die Implementierung der notwendigen Korrekturen in den Entwurf der EN ISO 8100-1/2 als Nachfolger der EN 81-20/50 war sehr groß und wurde unterschätzt.

René Hermann. Foto: © LIFTjournal / Bernd LorenzRené Hermann. Foto: © LIFTjournal / Bernd Lorenz

Welches waren die maßgeblichen Reaktionen auf den Entwurf?
Hermann: Die nationalen Spiegelkomitees haben die Entwürfe sehr seriös angeschaut und entsprechend kommentiert. Ich glaube, es wurde noch nie eine Norm so ernsthaft und tief überprüft. Als Folge sind für die beiden EN ISO Normen insgesamt über 2.000 Kommentare eingereicht worden, dazu kommen noch 500 Kommentare aus dem Qualitätsprozess der EU durch den HAS Consultant. Viele dieser Kommentare betreffen dabei Mängel, welche bereits in der EN 81-20/50 enthalten kommentiert wurden.

Einerseits freut es mich, dass die Normen nicht mehr nur abgenickt werden, andererseits kommt nun eine Riesenarbeit auf mich und die gesamte Arbeitsgruppe zu, sodass wir uns noch etliche Jahre mit den Normen beschäftigen könnten. Mein Ziel ist jedoch, den kommunizierten Termin für die Veröffentlichung – das erste Quartal 2025 – einzuhalten. Ich bin gerade dabei, die Kommentare zu analysieren und auf kleine Arbeitsgruppen aufzuteilen und zu beantworten. Es muss vor allem darauf geachtet werden, dass keine neuen technischen Anforderungen berücksichtigt werden.

Gibt es eine Deadline, bis wann die Normen fertig sein müssen?
Hermann: Gemäß dem neuen Standardisierungsauftrag der CEN mit der EU-Kommission ist das Ziel, dass alle aufgeführten Normen Anfang 2028 verfügbar sein müssen und anschließend von der EU zitiert werden sollen. Die EU-Kommission hat bereits angedroht, bei Nichteinhaltung der Termine Normen selbst zu schreiben. Wie auch immer: Die EN ISO 8100-1/2 muss in jedem Fall viel früher verfügbar sein, da sie die Basis für alle anderen Normen ist. Mit der Einführung der Qualitätsüberprüfung durch die EU sind die Anforderungen und der Aufwand für die Entwicklung harmonisierter Normen massiv gestiegen. Aus meiner Sicht ist daher zu überprüfen, ob es notwendig ist, alle Aufzugsnormen zu harmonisieren oder ob es nicht reicht, diese als nicht harmonisierte CEN Normen zu belassen (z. B. EN 13015).

Wie bereits gesagt ist das Ziel, die beiden Normen EN ISO 8100-1/2 im ersten – oder spätestens zweiten Quartal – 2025 zu veröffentlichen. Um diese große Herausforderung zu meistern, muss die Effektivität in der Entwicklung verbessert werden. Es muss fokussiert an den richtigen und wichtigen Normen gearbeitet werden, die Arbeit muss in kleineren Gruppen zielorientiert erfolgen und es dürfen insbesondere keine neuen Anforderungen eingebracht werden.

Foto: © René HermannFoto: © René Hermann

Welche wesentlichen Veränderungen bringt die EN ISO 8100-1/2 im Vergleich zur EN 81-20/50?
Hermann: Die wichtigsten Veränderungen habe ich in meinem Vortrag bei den Heilbronner Aufzugstagen zusammengestellt. Die wichtigsten Änderungen betreffen die Maschinenbremsen, Türen und die neuen Traktionsmittel. Die Maschinenbremsen müssen stärker ausgelegt sein, dies hat großen Einfluss auf die Systemauslegung. Große Änderungen gibt es auch bezüglich der Türen, insbesondere durch die Verkleinerung der Spalten zwischen Türflügel und Türrahmen. Ich habe schon mit Herstellern von Türen gesprochen, die mir gesagt haben, dass diese Vorgaben praktisch nicht eingehalten werden können, entsprechend gibt es dazu etliche Kommentare. Aus meiner Sicht ist da ein wenig über das Ziel hinausgeschossen worden. Die Beantwortung dieser Kommentare wird noch für etliche Diskussionen sorgen und eine große Herausforderung sein.

Welche Vor- und Nachteile haben sie für die Branche?
Hermann: Die Normen entsprechen nun dem Stand der Technik. International tätige Firmen können mit der neuen Norm Aufzüge mit neuen Technologien, wie Riemen oder dünneren Stahlseilen, einfacher in Märkten außerhalb von Europa in Verkehr bringen. In vielen Ländern ist es sehr schwierig oder teilweise nicht möglich, von Normen abzuweichen. In Europa wird das Inverkehrbringen von Aufzügen vereinfacht, dies ist vor allem für kleinere Firmen interessant. Für die Industrie ist es jedoch wichtig, dass die kommunizierten Termine für neue Normen eingehalten werden, sie braucht Planungssicherheit. Die ist sowohl für die großen Firmen wie auch die kleinen und mittleren Firmen ein absolut zentraler Punkt.

Die Planung der Anpassung der Produkte und der Verkauf sind in der Aufzugsbranche komplex, da sie mit der Planung und dem Bau von Gebäuden abgestimmt werden müssen. Die Einhaltung der Termine der EN ISO 8100 ist deshalb für mich ein zentraler Punkt, da auch die Gefahr besteht, dass wichtige Märkte wie etwa China eigene Normen einführen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass Europa in der Normungsarbeit weiterhin eine führende Rolle behält.

Und welche Vorteile bringen sie dem Mittelstand?
Hermann: In Europa bringen die Normen auch eine Erleichterung für die kleinen und mittleren Firmen. So mussten bisher Aufzüge mit neuen Tragmitteln, welche nicht den harmonisierten Normen entsprachen, über den Abweichungsprozess der Aufzugsrichtlinie in Verkehr gebracht werden. Dabei ist der Einbezug eines "Notified Bodies" (NB) für eine Einzelprüfung, eine Entwurfsprüfung oder eine Baumusterprüfung notwendig. So gibt es in der Schweiz kleine Aufzugsfirmen, die oft Einzelanlagen konstruieren, welche nicht den harmonisierten Normen entsprechen.

Der Einbezug eines NB für solche Anlagen ist mit Aufwand und zusätzlichen Kosten verbunden. Die Integration des Stands der Technik ist daher für solche Firmen ein wichtiger Vorteil. Die großen Aufzugsfirmen machen für ihre Standardaufzüge meistens eine "EU-Baumusterprüfung" mit einem NB. Daher ist dies für große Firmen nicht zwingend notwendig oder ein großer Vorteil.

René Hermann. Foto: © LIFTjournal / Ulrike LotzeRené Hermann. Foto: © LIFTjournal / Ulrike Lotze

Teilen Sie die Ansicht, dass die Normen zum Teil zu umständlich formuliert sind?
Hermann: Dem kann ich nur beipflichten. Bereits in der EN 81-1 Version von 1998 wurde festgestellt, dass die Norm nicht den CEN-Regeln entspricht, dies wurde im Vorwort der Normen festgehalten. Leider hat man bei der Entwicklung der EN 81-20 diesen Mangel nicht behoben. So sind unter anderem die Anforderungen oft nicht mess- und verifizierbar formuliert. Zudem sind Formulierungen oft kompliziert mit langen Sätzen und Nebensätzen.

Selbst ich habe teilweise Mühe zu verstehen, was nun wirklich die Anforderungen sind. Diese Komplexität erschwert die Übersetzung in andere Sprachen, führt zu Fehlern und zu vielen Interpretationsanfragen. So gibt es auch in der deutschen Version Fehler gegenüber der englischen Version. Wir müssen bei der Überarbeitung von Normen darauf achten, kurze Sätze mit präzisen Anforderungen und einheitlicher Terminologie zu verwenden. Man muss sich auch überlegen, ob künstliche Intelligenz uns bei der Normungsarbeit unterstützen könnte.

Nach Ihrem Bericht während des CEN/TC 10-Meetings Ende November 2023 gab es kontroverse Diskussionen über die Schnittstelle zum und die Einbeziehung des Gebäudes in das Regelwerk. Was steckt dahinter?
Hermann: Seit Februar 2019 ist die Anforderung der EU klar: "Der normative Teil darf keine Anforderungen ans Gebäude enthalten." Die EU-Kommission hat unmissverständlich klar gemacht, dass Gebäudevorschriften national geregelt sind und die Verantwortung für das Gebäude, wie etwa die Festigkeit der Wände, nicht beim Montagebetrieb liegt. Aus der Sicht der Kommission ist der Aufzug eine Maschine, welche in ein Gebäude eingebaut wird. Wie Sie beim Plenary Meeting festgestellt haben, wird dies aber immer noch infrage gestellt. In der EN ISO 8100-1 ist dies deshalb immer noch nicht vollumfänglich umgesetzt, jedoch vom HAS Consultant bereits entsprechend bemängelt und kommentiert worden. Ich werde deshalb diesen Punkt nicht mehr diskutieren, sondern entsprechend der Vorgaben der EU in der Norm umsetzen.

Sie werden Ende des Jahres in den Ruhestand gehen und auch den Vorsitz der WG 1 abgeben. Welche Bilanz ziehen Sie?
Hermann: Das müssen Sie eigentlich meine Kollegen fragen. Es war sehr herausfordernd und intensiv. Aus meiner Sicht ist die Bilanz aber trotz der in Europa abgelehnten Norm und der vielen Kommentare durchaus positiv. Die konstruktive Mitarbeit in der Arbeitsgruppe hat sich stark verbessert. Dies hat sich auch darin gezeigt, dass in den Spiegelgremien die Überprüfung der Normen, trotz der kurzen Zeit und während der Weihnachtszeit, äußerst seriös gemacht wurde. Nun gibt es viel Arbeit, um die vielen eingebrachten Mängel zu bereinigen. Ich spüre aber in der Arbeitsgruppe sehr viel Motivation und Bereitschaft, diese große Aufgabe gemeinsam anzugehen und termingerecht zu beenden.

Steht Ihr Nachfolger schon fest?
Hermann: Es zeichnet sich ein Nachfolger ab. Den Vorsitz der WG 1 hatte traditionell immer Schindler gehabt und wir arbeiten daran, ihn auch zu behalten.

Das Interview führte Ulrike Lotze.


Zur Person: René Hermann ist seit dem 1. Januar 2021 Vorsitzender der Arbeitsgruppe CEN TC10 WG1 – "Lifts and service lifts". René Hermann ist als eidgenössischer Diplom Elektro-Ingenieur und Absolvent der ETH Zürich und seit über 36 Jahren in der Aufzugsbranche in der Forschung und Entwicklung der Firma Schindler Aufzüge AG tätig. Er gehört zum Vorstand der European Lift Association (ELA) und ist Vorsitzender des Technischen Komitees des Schweizerischen Aufzugsverbandes (VSA).


Das sind die wesentlichen Änderungen: Neue technische Anforderungen
• Neue Tragmittel
• Treibscheibenaufzüge mit vergrößerter Nutzfläche
• Anforderungen an Maschinenbremsen
• Sicherer Zugang zur Schachtgrube (Leitern)
• Einziehen von Händen bei den Türen
• Inspektionsfahrt über die Endhaltestelle hinaus
• automatisches "Befreiungssystem" (ARD)
• Wartungsplattformen in der Schachtgrube
• Vertikale Schiebetüren
• SIL bewertete Sicherheitsschaltungen (ersetzt PESSRAL)

Neue Tragmittel
• Stahldrahtseile mit Durchmesser ab 4 mm
• Stahldrahtseile oder Riemen mit Kunststoffmantel
• Anforderungen definiert für
o Material, Konstruktion, Dimensionen, Festigkeiten
o D/D Verhältnis abhängig vom Typ (siehe Tabelle 11)
o Sicherheitsfaktor abhängig von Typ, Anzahl und Auslegung (min. 12)
o Treibfähigkeit
 o Kriterien für die Ablegereife (Lebensdauer)

Verhältnis Nutzfläche zu Nennlast
• Treibscheibenaufzüge mit vergrößerter Nutzfläche der Kabine (EN ISO 8100-1 Tabelle 7)
• Anforderung: o Auslegung Fahrkorb, Fangrahmen, Fangvorrichtung und Führungsschienen mit höheren Lastanforderungen (EN 8100-1 Tabelle 6)
o Auslegung Maschine, UCMP, Puffer, Treibfähigkeit und Sicherheitsfaktor Seile mit Nennlast
o Abwärtsbewegungen mit Überlast verhindert durch: mechanischen Anschlag (z.B. Aufsetzvorrichtung)
o Einrücken der Fangvorrichtung
• Überlast muss "sicher" erkannt werden

Anforderungen an Maschinenbremsen
• Bei Ausfall eines "Bremskreises" muss die Bremskraft ausreichend sein, um 110 % Nennlast zu verzögern
• Bremslüftung für jeden Bremskreis unabhängig
• Das Lüften der Bremse für jeden Bremskreis überwacht
• Überwachung der Bremse erfolgt o Erkennen des Verschleißes des Bremsbelags oder
o Automatisches Testen der Bremskraft (bei ACOP oder UCMP immer)

Sicherer Zugang zur Schachtgrube
• Anpassungen an EN ISO 14122-4 Sicherheit von Maschinen -Ortsfeste Zugänge zu maschinellen Anlagen -Teil 4: Ortsfeste Steigleitern
• Definition von Abständen (sicheres Betreten, Begehen und Verlassen)
• Begrenzung des Gewichts beweglicher Leitern abhängig von der Entfernung zum Einstieg
• Die "Parkposition" von beweglichen Leitern ist überwacht

Einziehen von Händen bei den Türen
• Keine scharfen Kanten zwischen Zargen- und Kanten der Türe
• Reduktion der Spalte zwischen Türen und Türrahmen (max. 8 mm)
• Für alle Türen: Begrenzung der Öffnungskraft´
• Fahrkorbtüren:
- Erkennen von Händen in den Einzugsspalten
- Reduktion der Spalten zwischen Türen und Türrahmen (Glastüren max. 5 mm, sonst 6 mm)
• Ohne Verriegelung der Fahrkorbtüre max. Abstand zwischen Schachtwand und Fahrkorbschwelle max. 12 cm
• Abstand zwischen geschlossenen Fahrkorbtüren und Schachttüren max. 12 cm

Inspektionsfahrt über die Endhaltestelle hinaus
• Stopp bei Erreichen der Endhaltestellen (normaler Fahrbereich)
• Weiterfahrt nach erneutem Betätigen der Fahrtaster und Richtungstaster
• Max. 0,15 m/s Geschwindigkeit im überfahrenen Bereich
• Endschalter und Pufferschalter werden überbrückt

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